Nächstenliebe in Zeiten des Krieges

Veröffentlicht am: 12. April 2022

Beromünster - Was am 24. Februar 2022 mit einem Überfallskrieg Russlands gegen die Ukraine begann, mündete seither tausendfach in Tod und Zerstörung, Vertreibung und Flucht. Die Solidarität der Menschen in Europa, so auch der Schweiz, zeigt ein Antlitz der Mitmenschlichkeit. Viele Initiativen zusammen helfen den mehr als vier Millionen Geflüchteten – vor allem Frauen und Kindern – Erstversorgung und Halt zu finden. Die Don Bosco Jugendhilfe Weltweit hilft inmitten des Kriegsgeschehens, an den Grenzen der Nachbarländer, wie auch in der Schweiz. Geschäftsleiter Markus Burri (56) ist ein jahrzehntelang ausgewiesener Experte der Internationalen Zusammenarbeit und beleuchtet im Interview, worauf es in Zeiten wie diesen ankommt.

Herr Burri, vorweg: Was macht die aktuelle Krise infolge des Ukraine-Krieges mit Ihnen und Ihren Gedanken?

Es macht mich extrem betroffen, die apokalyptischen Bilder des Krieges und das Ausmass der Zerstörung zu sehen. Ich habe selber viele Jahre in Konfliktgebieten gearbeitet und niemand bei uns in der Schweiz kann es sich wirklich vorstellen, was hier passiert. Über Nacht ist alles weg: Das Haus, die Schule, das gemeinsam Aufgebaute, die gesamte Lebensgrundlage. Flucht im Bombenhagel. Wer es bis zur Grenze schafft, steht da mit einem kleinen Koffer, mit ein oder zwei Kindern an der Hand, den Krieg im Rücken, eine mehr als ungewisse Zukunft vor sich.

Hatten Sie in der aktuellen Krise selber eine Situation, die Ihnen sehr nahe ging?

Ja, es ist das Bild einer aktuellen Begegnung bei uns in Beromünster. Wir hatten sehr rasch beschlossen, das Don Bosco-Haus für zwanzig geflüchtete Menschen zu öffnen. Nach den notwendigen Behördenwegen bekamen wir dann die Information, dass alsbald erste Menschen aus der Ukraine bei uns eintreffen würden. Eines Morgens bekam ich einen Anruf aus der Nachbarschaft, dass eine Frau, zu Fuss mit drei Kindern, im Ort nach uns gefragt hätte. Ich lief die Strasse hinunter und traf auf Natalka, die mit dem dreijährigen Bogdan auf dem Arm, dem elfjährigen Maxim an der Hand und der 17-jährigen Yana neben sich plötzlich vor mir Stand. Kleines Gepäck hinter sich herziehend. Den Ausdruck von Verzweiflung und zugleich Hoffnung ins Gesicht geschrieben. Einen Tag später erfuhr Natalka, dass ihr Mann im Wehrdienst der Landesverteidigung in der Ukraine ums Leben gekommen ist. Immer wenn ich neue Nachrichten aus der Ukraine höre, habe ich das Bild von Natalka und ihrer Familie im Kopf.

Was ist das Gebot der Stunde?

Ganz klar: Der Krieg muss aufhören! Bis es soweit ist, helfen wir den vom Krieg Betroffenen in unseren neun Don Bosco-Zentren in der Ukraine, den geflüchteten Menschen an den Grenzen der Nachbarländer Polen, Slowakei und Moldawien. Und auch bei uns in Beromünster, im Rahmen unserer Möglichkeiten.

Was sind die wichtigsten Aspekte humanitärer Hilfe?

Unmittelbare Hilfe ist immer die wichtigste Hilfe. Die Triebfedern des Helfens müssen immer Herzlichkeit und Empathie sein. Funktionalität allein ist zu wenig. Dazu braucht es klare Konzepte, was den Umfang und die einzelnen Themenfelder der Hilfe anbelangt. Ich betone gerne den «Subjektumgang», der so wichtig ist: Wir haben es mit Menschen zu tun, denen wir Raum lassen müssen, Eigenes zu schaffen. Durch ihre Eigenständigkeit behalten sie den Selbstwert und die Selbstachtung. Sie müssen eigenen Bedürfnissen nachgehen und gleichzeitig Perspektiven bauen können. Wir stellen dafür vor allem das Umfeld zur Verfügung, sei es in der Ukraine, an den Grenzen der Nachbarländer oder in Beromünster. Ausserhalb der Kriegsgebiete ist die Hilfskette der Reihe nach gegliedert in: Sicherheit und Schutz bieten, die täglichen Grundbedürfnisse erfüllen, Spracherwerb, Schulbesuch und Freizeitprogramm fördern und dann - für Erwachsene – Arbeit finden.

Wie reagiert die Bevölkerung in Beromünster auf die neue Situation im Don Bosco-Haus?

Wir erleben aktuell eine Welle der Solidarität und Unterstützung. Privatpersonen kommen mit Kleiderspenden zu uns ins Haus. Es haben sich sogleich freiwillige Sprachlehrer gemeldet, die regelmässig helfen. Und Familien aus Beromünster nehmen oft auch unsere Gäste aus der Ukraine bei sich zu Hause für ein Mittagessen oder ein konkretes Freizeitprogramm auf. Das alles hilft uns sehr und macht mir grosse Freude.

Welche Auswirkungen hat die aktuelle Ukraine-Krise auf die anderen Projekte der Don Bosco Jugendhilfe Weltweit in Afrika, Asien und Lateinamerika?

Wir sind und bleiben eine weltweit tätige Hilfsorganisation im Dienst junger Menschen in Risiko-Situationen. Wir stehen zu unseren Verpflichtungen und Prioritäten, auch wenn die verheerenden Auswirkungen des Krieges in der Ukraine gerade viel von unserem Arbeitsfokus in Anspruch nehmen.

Zu Ihnen persönlich, Herr Burri: Was hat Sie auf den Weg des professionellen Helfers gebracht?

Das reicht zurück in meine Kindheit und Jugend. Ich war ab meinem zehnten Lebensjahr in der Jungwacht in Malters engagiert und eingebunden, später auch Leiter. Dort kam ich auch in Kontakt mit Pater Pablo Gmür, einem Diözesanpriester, der später nach Peru ging. Alle paar Jahre kam er zurück und inspirierte uns mit Diavorträgen zu seinen Erfahrungen und Hilfsprojekten. Damals sagte ich mir: «Eines Tages machst Du das auch!» Ich verspürte das innere Bedürfnis, mich in fremden Kulturen für benachteiligte Menschen zu engagieren, Teil einer Bewegung zu sein, sicher auch im Licht der damals sehr aktuellen Befreiungstheologie Lateinamerikas.

Was ist für Sie gute Hilfe?

Ich habe in vielen grossen und internationalen Hilfsorganisationen gearbeitet. Das Wesen jeder guten und nachhaltigen Hilfe ist Gemeinschaftsbildung und Teilhabe der betroffenen Menschen. Sei es beim Wiederaufbau, bei Versöhnungsarbeit oder auch der Verbesserung bestehender Strukturen bei Bildung, Wasser oder Ernährung. Die Menschen müssen selber Hand anlegen, wir können sie dabei begleiten und unterstützen. Es braucht intrinsische Motivation zum Selbertun. Gutes Zuhören von Beginn an ist die Voraussetzung dafür.

Gab es für Sie prägende Erlebnisse inmitten von Hilfsprojekten?

Das war sicher eine Einladung bei einer Familie im bosnischen Bihac, wo wir nach dem Balkankrieg im Einsatz waren. Eine Familie lud mich zur Weihnachtszeit zu sich nachhause ein und teilte alles mit mir, was sie hatten. Sie verfügten kaum über das Nötigste, aber sie haben mich in der Situation in ihr Leben aufgenommen. Weiters prägt mich bis heute eine Situation in Kolumbien: Wir hatten ein neues Schulhaus aufgebaut und zur Einweihungsfeier erhielten alle Anwesenden das lokale Festessen, gebratene Meersäuli, «Cuy» genannt. Eine alte Frau, hager und gezeichnet von einem schweren Leben, die sicher schon lange Zeit kein Fleisch mehr gegessen hatte, kam zu mir und schenkte mir ihren «Cuy» mit einer demutsvollen Geste. Aus Respekt ihrem Wunsch gegenüber habe ich das Geschenk damals angenommen. Ich träume noch heute davon. Es lehrte mich, Dank annehmen zu können, aber auch dankbar zu sein.

Was bedeuten für Sie Effizienz und Effektivität?

Das Richtige zu tun ist nicht immer leicht. Das Fundament effektiver Hilfe ist immer, die lokale Situation in Ruhe zu analysieren und darauf aufbauend die Projekte zu entwickeln und umzusetzen. Auch als Hilfsorganisation arbeiten wir nach den Kriterien der Wirtschaftlichkeit. 90 Rappen eines Spenderfrankens stehen bei uns direkt für Hilfsprojekte zur Verfügung. Was nur möglich ist, weil wir eine starke Basis treuer und grosszügiger Gönnerinnen und Gönner haben, die uns nur wenig administrativen Aufwand abverlangen. Zudem leisten die Ordensmitglieder der Salesianer Don Boscos ihre Arbeit weltweit ohne Entlohnung. Wirkung, Stabilität und Nachhaltigkeit unseres Tuns sind damit gewährleistet.

Was ist Ihre grösste Hoffnung?

Dass wir Menschen es schaffen, unseren Planeten als einen lebenswerten Ort zu erhalten.

Was ist ihre Vision?

Dass wir Menschen lernen, weniger egoistisch zu sein und begreifen, dass alles auf unserer Welt miteinander verbunden ist.

Woran glauben Sie?

Dass Jeder Mensch einen wertvollen Beitrag für ein gutes Zusammenleben leisten kann.

Was ist Ihre Appell an unsere Leserinnen und Leser?

Lasst uns sehen, dass jeder Tag hundert Möglichkeiten bietet, dankbar zu sein. Und sich für uns stetig neue Handlungsfelder eröffnen - für eine bessere Zukunft.

 

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