P. Franz-Ulrich Otto: „Der Enthusiasmus der Menschen hat uns überzeugt“

Veröffentlicht am: 20. Mai 2021

Wie war das damals? Seit 31 Jahren sind Ost- und Westdeutschland wieder vereint: Am 3. Oktober 1990 trat der Einigungsvertrag in Kraft, mit dem die frühere DDR der Bundesrepublik beitrat - damit war die Teilung Deutschlands nach 45 Jahren überwunden. Und für viele religiöse Ordensgemeinschaften stellte sich fortan die Frage, ob auch sie in den neuen Bundesländern aktiv werden sollten.

Auch die Salesianer Don Boscos in Deutschland – damals noch in Nord- und Südprovinz unterteilt – prüften, wie und ob Jugendarbeit in Ostdeutschland möglich ist. 1991, nur ein Jahr nach der Wiedervereinigung, folgten die ersten Präsenzen in Heiligenstadt (Eichsfeld) und dem sächsischen Chemnitz, bis 1990 noch Karl-Marx-Stadt. Später folgten Dittersdorf und Burgstädt (Sachsen), ein Standort der Don-Bosco-Schwestern in Magdeburg sowie ab 2005 Berlin-Marzahn.

Pater Franz-Ulrich Otto war maßgeblich an dieser Entwicklung und dem Aufbau der Jugendarbeit in Heiligenstadt (Thüringen) sowie später in Berlin-Marzahn beteiligt. Zum 30-jährigen Jubiläum der Salesianer Don Boscos im Osten haben wir ihn interviewt.

 

Pater Otto, wie haben Sie persönlich den Mauerfall damals miterlebt?

P. Franz-Ulrich Otto: Ich muss dazu sagen, ich komme gebürtig aus Duderstadt, das im Eichsfeld liegt. Damals war das Eichsfeld geteilt: Vier Fünftel lag in Thüringen und damit in der DDR, ein Fünftel in Niedersachsen. Duderstadt gehörte zu Niedersachsen und wir haben die Grenze sozusagen direkt vor der Stadt gehabt. Da war die Welt für uns immer ein Stück zu Ende. Ich bin also mit der Grenze groß geworden und habe das alles miterlebt.

Später kam dann zwar der Grenzübergang, aber du musstest viel Eintrittsgeld bezahlen, um in die DDR fahren zu können. Das machte natürlich nur Sinn, wenn man drüben nahe Angehörige hatte. Ich habe mich immer dagegen gewährt, weil ich diese Finanzeinnahme der DDR nicht unterstützen wollte. Deswegen bin ich da auch nie hingefahren.

Als die Mauer dann gefallen ist, war ich in Essen, wo ich zu der Zeit als Stadtseelsorger gearbeitet habe. Aber meine Eltern und Geschwister lebten noch in Duderstadt. Von ihnen bekam ich dann auch den Anruf und sie erzählten mir, dass die Grenze auf ist. Und dann wurde dort alles überrollt.

Für mich war das ein großer Wendepunkt in meinem Leben. Denn da war ja immer Schluss und plötzlich eröffnete sich eine neue Dimension. Das war für mich sehr persönlich und emotional. Aber dadurch, dass ich dort gelebt und aufgewachsen bin, hatte ich eine ganz andere Verbindung zur Grenze.

 

Wie war die Stimmung zu diesem Zeitpunkt unter den Salesianern? Haben einige gleich darüber nachgedacht, rüberzugehen?

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Es gab vereinzelt Tendenzen dazu, direkt dort aktiv zu werden. Die kamen aber eher aus Süddeutschland. Gerade Pater August Brecheisen stand sehr hinter dieser Idee.

Ab 1990 war ich dann auch Mitglied des Provinzialrats in der Nordprovinz. Dort habe ich jedoch die Meinung vertreten, dass wir die Sache erst einmal ruhig angehen sollten. Ich war dagegen, dass wir sofort in den Osten rüberlaufen, um dort Terrain zu gewinnen.

Klar war aber: Wenn Anfragen kommen, sollten diese ernsthaft geprüft werden. Darin waren sich auch die meisten Mitbrüder einig, zumindest im Norden.

Denn damals gab es noch zwei deutsche Provinzen: die norddeutsche und die süddeutsche Provinz der Salesianer Don Boscos.

 

Übte der Gedanke, Jugendarbeit im Osten zu machen, auf viele Mitbrüder denn einen Reiz aus?

Es gab nicht viele, die Lust darauf hatten, zumal die Anzahl der Mitbrüder schon damals begrenzt war. Wir fingen ja auch schon an, Einrichtungen zu schließen, weil wir zu wenige Mitbrüder hatten. Und von daher war es nicht so, dass viele jetzt mit den Hufen scharrten, um endlich in den Osten zu kommen. Das war nicht der Fall.

 

Wie kamen die ersten Kontakte in den Osten überhaupt zustande?

Was Burgstädt und Chemnitz betrifft, so ging das alles über die Südprovinz. Die beiden Provinziale hatten vereinbart, dass Sachsen gebietsmäßig der Südprovinz zugeordnet wird, die anderen Bundesländer der Nordprovinz. Entsprechend haben sich Sachsen auf der einen sowie Thüringen auf der anderen Seite auch unterschiedlich entwickelt.

Von Süddeutschland aus haben Pater August Brecheisen und Pater Johannes Schoch aus Aschau-Waldwinkel Kontakt mit den Verantwortlichen und Menschen in Sachsen aufgenommen und haben geschaut, was man dort machen kann. Im Norden wollten wir erst einmal abwarten und die Anfragen prüfen, die kommen.

Und dann kam auch die erste Anfrage, und zwar aus Heiligenstadt. Die Stadt hatte Probleme mit den Jugendlichen in der Stadt, die aufgrund von vielen geschlossenen Einrichtungen keine Anlaufstelle mehr hatten. Eine Gruppe von Menschen fand sich dort zusammen, um einen Verein zu gründen und das Problem anzugehen.

Diese Gruppe stellte dann die Anfrage bei uns, ob wir nicht mitmachen und sie da unterstützen könnten. Gerade das Engagement und der Enthusiasmus dieser Menschen haben uns letztlich überzeugt. Denn zu Beginn hatten wir eigentlich nicht vor, dort tätig zu werden und eine Niederlassung zu gründen.

 

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Wie beginnt man kirchliche Jugendarbeit denn dort, wo Menschen nicht kirchlich sozialisiert sind? Denn schließlich möchte man nicht den Eindruck erwecken, missionieren zu wollen.

Dazu muss ich sagen: Das Eichsfeld ist eine katholische Insel, also nicht, wie der Rest der DDR. Das war eine Sondersituation. Dort war Kirche eigentlich der Gegenspieler des Staates. Wenn man in der DDR Schutz brauchte, ging man zur Kirche. Gerade vor den politischen Predigten des Bischofs von Erfurt hat man in der DDR Angst gehabt.

Früher in der DDR hat man versucht, wichtige Posten mit Menschen zu besetzen, die nicht aus dem Eichsfeld kamen und vor allem nicht katholisch waren. Aus diesem Grund hatten wir später in der Einrichtung auch eine interessante Mischung unter den Jugendlichen. Manche waren kirchlich engagiert, anderen dagegen überhaupt nicht. Doch gerade diese Mischung war sehr fruchtbar.

Wie die Situation in Burgstädt und Chemnitz in den ersten Jahren gewesen ist, kann ich nicht genau sagen, da ich das nur von außen mitbekommen habe.

In Berlin-Marzahn haben wir erst 2005 angefangen und auch das war eine ganz andere Situation. Denn vorher waren wir rund 50 Jahre in Berlin-Wannsee, das ja zum damaligen Westberlin gehörte.

 

War Jugendarbeit im Osten denn anders als Jugendarbeit im Westen?

Ich würde erst einmal sagen: Nein, grundsätzlich nicht anders. Wenn man heute zum Beispiel nach Marzahn schaut: Dort haben 90 Prozent der Bevölkerung noch nie Kontakt mit dem Christentum gehabt. Die Menschen dort haben nichts gegen Kirche, aber sie kennen Kirche gar nicht. Die wissen nicht, was das ist.

Letzten Endes haben wir es immer mit Jugendlichen zu tun, die Sorgen, Nöte und Probleme haben. Es ist nebensächlich, ob sie katholisch sind, einen Glauben haben oder nicht. Uns interessieren die Menschen mit ihren Sorgen und Nöten.

 

Wenn wir auf die vergangenen Jahrzehnte zurückblicken: Was haben die Salesianer denn im Osten erreichen können?

Ich denke, wir haben dort eine ganze Menge erreicht. Einmal hat der Orden – das wage ich zu sagen – die Kontinuität im Osten gewahrt. Viele Ordensgemeinschaften sind am Anfang in den Osten "rübergehüpft" und haben gemeint, da können sie neues Terrain gewinnen. Heute sind viele von ihnen nicht mehr zu sehen. Sie sind schon wieder weg.

Die Salesianer dagegen haben eine Kontinuität gewahrt und sind bis heute da – und haben dort auch nichts wieder aufgegeben. Ich bin ein großer Verfechter der Ansicht, dass wir – wenn wir etwas aufgeben müssten – das nur nicht im Osten machen sollten. Das wäre ein fatales Zeichen. Natürlich ist es immer schlimm, wenn wir Einrichtungen schließen müssen. Aber hier im Osten wäre es nochmal doppelt so schlimm.

Die Menschen hier fühlen sich doch nach wie vor in vielen Dingen benachteiligt – und das sind sie auch. Die Wirtschaft ist nicht so stark, viele Gebiete sind wie ausgestorben und die Bevölkerung sehr alt, weil die jungen Leute alle wegziehen. Wenn wir dann auch noch unsere Arbeit dort aufgeben würden, wäre das wirklich fatal. Aber das haben wir nicht gemacht – zum Glück!

Interview: Patrizia Czajor